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Kennt Ihr das Projekt „Starke? Frauen“ noch nicht? Dann könnt Ihr Euch hier das Einführungsvideo (5 Minuten) ansehen oder es lesen.

(Hinweis: Wer das Videointerview mit Uscha schon gesehen hat, liest bitte direkt an der Stelle weiter, wo der Text wieder schwarz wird. Die grünen Zeilen sind eine Abschrift des Video-Interviews für alle, die lieber lesen als gucken. :-))

Heute sind wir mit Uscha Madeisky verbunden, sie ist Filmemacherin und forscht seit den 1990er Jahren zu Matriarchaten. Viele der circa 200 mutterrechtlichen Gesellschaften, die es aktuell auf der Welt gibt, hat sie selbst besucht. Über die Khasi, Jaintia und Garo in Indien, die Kunama in Eritrea sowie die Mosuo in Südchina hat sie, seit 1999 zusammen mit ihrer Projektpartnerin Dagmar Margotsdotter, Filme gedreht – zum Beispiel den Film „Mutterland“ sowie den neusten Film „40 Tage“. Über den Verein MatriaVal und die „MutterlandBriefe“ ist Uscha mit Frauenforscher:innen in ganz Deutschland vernetzt. Das Thema Matriarchate finde ich unglaublich spannend, deswegen freue ich mich ganz besonders auf unser Gespräch, das wie immer mit der Frage startet: Uscha, eine starke Frau, was ist das für dich?

Uscha Madeisky: Ich denke Frauen nicht als eine Einzelne, sondern ich sehe sie immer im Verbund, als Schwesternschaft. Wenn ich allerdings hier in der westlichen Welt, an Frauen denke, die stark sind, dann müssen diese Frauen sich durchsetzen, so wirkt es auf mich. Ich frage mich dann – wofür? Wogegen? Wen bekommen sie auf ihre Seite, was wollen sie erreichen? Und das ist schon sehr angestrengt. Es macht mir keine Freude, von starken Frauen hierzulande zu sprechen. Ich bin ja unterwegs in matriarchalen Gesellschaft, das sind Gesellschaften, die rund um die Frau, um das weibliche Wesen ausgerichtet sind. Dort ist Stärke für Frauen Selbstverständlichkeit, sie müssen sie nicht beweisen. Sie sind da. Sie sind durch ihr Sein. Die Frau wird geachtet. Die Frau wird respektiert. Die anderen in der Gesellschaft, Männer, Kinder, versuchen sogar wie Frauen zu sein. Das muss „man“ sich mal vorstellen! Die Frau ist Vorbild und ich möchte betonen, dass sie mütterliches Vorbild ist. Also keine Frau, die bestimmt, die herumkommandiert, die andere dominiert. Überhaupt nicht, das gibt es dort einfach nicht. Die Frau ist stark durch ihre Natur, die Frau kann gebären. Sie muss nicht gebären! Manche denken, dass Frau dort nur anerkannt ist, wenn sie Mutter ist. Nein, es geht in den matriarchalen Gesellschaften der Gegenwart um das mütterliche Prinzip.

Andrea: In mir hat sich durch deine Beschreibung etwas komplett entspannt. Auf der einen Seite die westliche, anstrengende Durchsetzungskraft, da zieht sich alles zusammen. Als du dann die aktuellen Matriarchate erklärt hast und die Rolle der starken Frau dort, fühlte ich Erleichterung, ein innerliches „Ahhh“ (Seufzt). Das heißt, die Despotin sucht man in Matriarchaten auf jeden Fall vergeblich. Und die Idee, die ich bis vor kurzem auch von Matriarchaten hatte, dass – ausgehend vom Patriarchat als Herrschaft der Männer – das Matriarchat eine Herrschaft der Frauen sein muss, die ist totaler Quatsch, oder?

Uscha: Ja. Diese Idee hat sich geradezu überall auf der Welt festgesetzt. Es soll eine Umkehrung sein. Hier im Westen haben wir ja in der Tat, historisch und aktuell, eine männliche Dominanz. Die wird ausgerichtet an Gesetzen, am Gottvater … und so weiter. Wir kennen patriarchale Gesellschaften und dann nehmen alle an: Matriarchat, okay, genau umgekehrt. Die Frau ist die Dominante. Aber nein, es ist sowas von anders, dass wir es mit unseren Kriterien nie auch nur angucken können. Diese andere Gesellschaftsform ist dermaßen auf Kooperation, auf Gleichheit, auf Zusammenwirken ausgerichtet, auf Werte, von denen wir hier manchmal träumen.

Andrea: Wie schaffen sie das, diese komplett andere Ausrichtung zu leben?

Uscha: Sie sind permanent im Gespräch von Mensch zu Mensch, also immer im Austausch, immer zugewandt. Immer schauend: Was braucht der andere Mensch? Sie wollen sich nie überstülpen, immer geht es darum: Wie gehen wir gemeinsam an die Sache ran? So leben sie zusammen, sie orientieren sich an der Freude am anderen Menschen und an den Fragen: Wie sind wir glücklich und wie führen wir ein gutes Leben, in dem wir alle versorgt sind? Darum geht es und nicht darum, selbst versorgt zu sein, sich selbst durchzusetzen. Und wichtig ist auch, mit der Natur und dem, was uns gegeben wurde, im Einklang zu sein.

Andrea: In eurem neuen Film „40 Tage“ beschäftigt ihr euch mit der Zeit, in der neue Mitglieder der Matriarchate auf die Welt kommen, mit den ersten 40 Tagen eines neuen Erdenbürgers, einer neuen Erdenbürgerin. Ich habe einiges über den Film gehört und mir kam die Idee, dass die Art, wie Matriarchate ihre Werte setzen und ihre Gemeinschaft bilden, ganz viel damit zu tun hat, wie sie die Begrüßung des Kindes und die Rolle der Mutter gestalten.

Uscha: Genau, das ist in der Tat so und ist ein Grund, warum dann das weitere Leben auch so gut gelingt. Ein Kind, das auf die Welt kommt, ist noch nicht so lebensfähig, wie es in der Tierwelt ist. Es will ständig umhegt werden, gehalten werden und gewärmt. Es braucht den Kontakt zu den anderen Menschen, zum Umfeld. Es will die Stimmen hören, will Zuwendung spüren. Ständig. All das füllen matriarchale Geburtsprozesse aus und das ist in der Tat mit ein Grund, warum die Menschen dort, wenn sie dann größer werden, nicht traumatisiert sind, sich nicht verlassen fühlen, sondern eingebettet und geschützt.

Die ersten 40 Tage haben eine symbolische Kraft. Das ganze Umfeld ist dabei, das Kind ist von den nahen Menschen – Nachbarn, Familie –immer umfangen und es ist immer ganz nah bei der Mutter. Verwandtschaft und Nachbarn stützen Mutter und Kind. Es ist wichtig, dass die Mutter in dieser Zeit geachtet und beachtet wird. Die Zuwendung geht stark zur Mutter und zu der Bedeutung, die sie hat. Sie fühlt sich nicht alleine gelassen, wie wir das hier leider sehr gut kennen. Dort sind alle auf ihrer Seite und das bleibt auch so. Letztlich können wir uns ein Matriarchat so vorstellen, wie die ersten 40 Tage des Lebens: Die Gemeinschaft hält zusammen. Die Gemeinschaft hat als Symbolik Mutter und Kind. Und so bauen sie dann auch ihre Wirtschaft auf, ihre soziale Ordnung.

Andrea: Als ich mich durch die Gespräche über Starke? Frauen verstärkt mit Feminismus und Emanzipation beschäftigt habe, war ich schockiert von dem Mutterbild, das mir dort an manchen Stellen begegnete. Die Mutterrolle wird abgelehnt, als „untergeordnete Arbeit“ bezeichnet. In mir entsteht der Eindruck, dass Mütter im Westen so schnell wie möglich erwerbsfähig sein sollen oder müssen. Unser großes Vorbild, die USA, kennt gar keinen Mutterschaftsurlaub. Ich würde gerne mit dir über dieses Mutterbild sprechen, auch im Vergleich zu dem, was du in Matriarchaten erlebst.

Uscha: Seit den 70er Jahren gibt es in der Tat diese ablehnende Strömung im Feminismus, aber nicht bei allen, das kann ich nicht sagen. Auf diese Art entgeht der Frau natürlich ganz viel, sie verliert das Grundgefühl, das eine Frau hat, wenn sie sich ihrem Kind widmet, denn der Körper der Frau ist ja dafür gemacht. Es ist schön, wenn sie ihr Kind umsorgt und nährt und es muss eine innige Beziehung sein, vermute ich, denn ich habe selbst nicht geboren. Aber ich kann mich einfühlen und kann beobachten, was es bedeutet, wenn Frau und Kind zusammen sind. In gewissen Zeiten war das ein heiliges Bild. All das abschaffen zu wollen bringt uns in den Transhumanismus. Den treiben wir in Windeseile voran und alles geht weg vom eigenen Körper, von der Empfindung, der Empfindsamkeit. Aber ohne Körper, oder besser noch ohne Leib, geht gar nichts mehr. Irgendwann ist unser Verhalten dann nur noch eingeübt oder nachgeplappert oder wird durch Maschinen ersetzt, dann läuft es auf die Abschaffung der Mutter hinaus.

Andrea: Das ist die eine Richtung, in die es geht. Aber du deutetest an, das es noch einen anderen Weg gibt.

Uscha: In der stillen Revolution der 80er Jahre haben viele junge Frauen einfach losgelegt und wieder das gemacht, was natürlich ist und was ihnen gut tut. Sie haben angefangen, zu Hause zu gebären, zu stillen. Sie haben beschlossen eine ganze Weile mit ihren Kindern zu sein. Auch diese Strömung gibt es immer noch, und ich glaube, sie wird sich immer wieder durchsetzen. Was ich in den Matriarchaten gelernt habe, ist, dass Mütter auch hier im Westen vom Umfeld ganz viel Unterstützung benötigen. Eine Frau allein kann es nicht schaffen, sie lebt hierzulande ja nicht mit anderen Frauen im Kollektiv, was gut wäre. Dann könnte sie sich spiegeln in Frauen allen Alters, sie könnten zueinander halten, zusammen wirken. Das ist in den Matriarchaten so. Hier müssen wir sehen, dass die Mutter diese Unterstützung vom Ehemann oder von der eigenen Mutter bekommt. Alles, was in der Nähe ist, sollte sich nach Mutter und Kind richten. Zum Teil sehe ich, dass das auch versucht wird.

Andrea: In den Matriarchaten basiert alles auf der Mutterschaft, alles entsteht aus dem Muttersein, hast du gesagt.

Uscha: Wir können Matriarchat übersetzen mit „Im Ursprung die Mutter“. Die Grundlage ist die mütterliche Ordnung. Und auch hier bei uns könnte das Mütterliche wichtiger werden. Selbst eine Frau, die nicht den ganzen Tag zuhause sitzen möchte, sich verwirklichen möchte, die wieder in ihren Beruf möchte, weil er ihr Freude bereitet, die müsste das ja nicht ausschließlich machen? Auch in den Matriarchaten arbeiten die Frauen weiter – auf dem Feld oder als Lehrerin zum Beispiel. Hier bei uns nimmt die Berufstätigkeit viel zu viel Zeit in Anspruch, das allein ist doch schon verrückt. Wir können doch beides machen.

Andrea: Ja, ich glaube auch, dass unsere ganze Einteilung der Lebenszeit hier im Westen verquer ist, darüber habe ich auch schon geschrieben. Ich weiß genau, was du meinst, wir haben hier den Lebensmittelpunkt „Arbeit“, nach dem richtet sich alles andere. Und wenn ich dich richtig verstehe, ist in den Matriarchaten der Lebensmittelpunkt das Kind.

Uscha: Kind und Großfamilie, und alles andere richtet sich danach, ganz genau.

Andrea: Und daraus entsteht dann eine Gesellschaft, die es schafft, für alle Geborgenheit, Sicherheit und Stabilität zu erlangen.

Uscha: Ja, das ist das Ziel, das gilt es zu erreichen und darum geht es in jeder Kommunikation. Und um Individualität. Das glaubt mir hier auch kein Mensch, weil für uns Gemeinschaft und Individualität Gegensätze sind. Aber man kann sich nirgendwo so sehr als Individuum aufgehoben fühlen wie in den Matriarchaten, die ich kenne. Auch mit schrillen oder eigenartigen Interessen und Ideen.

Andrea: Was glaubst du, woher das kommt?

Uscha: Einfach, weil sie jedem Menschen gut sind, sie sind einander gut. So wie du bist, ist es gut. Der andere wird nie als Bedrohung gesehen, auch wenn er mal rausprescht, laut wird.

Andrea: Wenn man sich eine Gesellschaft vorstellt, die Geborgenheit und Sicherheit bietet, dann kommt schnell die Idee von „Friede, Freude, Eierkuchen“ und jede/r muss sich dafür zusammenreißen. Aber das ist dort überhaupt nicht so?

Uscha: Ganz genau, sie müssen sich nicht durchsetzen. Es ist eine andere Wahrnehmung: „Ah, der macht das so und die macht das anders. Ah, so ist das.“ Es wird immer versucht, die anderen sein zu lassen oder sogar in ihrem Anderssein zu unterstützen. Und wenn es nicht passt, allzu irre ist oder sogar der Gesellschaft schaden würde, das würde sich schon von alleine ausblenden, dazu müssen dort gar nicht Recht oder Gesetze herangezogen werden.

Andrea: Jetzt hast du eben betont, ein Teil der Besonderheit des Zusammenlebens in Matriarchaten entstünde aus den ersten 40 Tagen, die Kind und Mutter ein Urvertrauen geben. Aber eben nur ein Teil?

Uscha: Ja, sie ruhen sich nicht auf diesen ersten Erfahrungen aus, sie pflegen diese Errungenschaften. Sie achten auf die Balance unter den Menschen, schauen, dass Geben und Nehmen nicht nur einseitig sind. Sie haben Werte, nach denen sie sich richten.

Andrea: Definieren sie diese Werte, gibt es sowas wie „10 Gebote“, die irgendwo an der Wand hängen oder sind das Werte, die sich einfach aus dem Miteinander entwickeln?

Uscha: Du findest diese Werte überall, in den Geschichten, die sie erzählen oder in ihren Ritualen. Rituale sind wichtig, weil sie den Respekt vor der Natur und die Kommunikation mit der Natur immer wieder auffrischen.

Andrea: Das heißt, wenn ich das jetzt mal wieder mit „unserem“ Westen vergleiche, wo das morgendliche Ritual vielleicht drin besteht, Zeitung zu lesen und dann auf der Fahrt zur Arbeit möglichst viele andere Autofahrer zu beschimpfen, dann können wir schon im Vergleich der Rituale sehen, was wir von Matriarchaten lernen könnten.

Uscha: Ja, zum Beispiel wenn ein Kind geboren wird, gibt es ritualisierte Tänze oder es werden Nahrungsmittel dargeboten – die Botschaft ist, dass dieses Kind, das jetzt geboren wurde, für alles offen sein darf, alle Möglichkeiten haben soll im Leben. Ich glaube, wenn diese Treffen, diese Traditionen – die die Frauen initiieren – nicht wären, würden die Gemeinschaften auseinandergehen. Auf den Ritualen baut alles auf.

Andrea: Als Ergebnis meiner Gespräche über Starke? Frauen habe ich für mich drei Säulen der Stärke definiert: Gemeinschaft, das Fühlen und Selbstermächtigung, im positiven Sinne. Jetzt habe ich dir eine halbe Stunde zugehört und stelle fest: Es sind genau diese Säulen, auf denen die Matriarchate ruhen.

Uscha: Exakt. Genau das ist es. Zur Selbstermächtigung möchte ich noch betonen, dass die von den anderen einfach ohne Worte zugesprochen wird, die Frau muss sich nichts nehmen, nichts erkämpfen, weil alle anderen mitschwingen, mit jeder Frau. Alle wissen um diese weibliche Seinsmacht.

Andrea: Es passiert dort vielleicht das, was Markus Worthmann in unserem Gespräch gewünscht hatte: Die Männer treten ein Stück zurück und geben der Frau Raum, einfach sein zu dürfen.

Uscha: Ja, das auf jeden Fall, das machen die Männer, oder besser: Sie fügen sich dem Raum, sie geben ihn ja nicht. Sie haben nicht die Macht, ihn zu geben, aber schwingen in diesem Raum mit, wollen ihn nicht ergreifen.

Andrea: Was uns jetzt zu einer ganz interessanten Frage führt: Wie ist denn überhaupt die Rolle der Männer in so einem Matriarchat?

Uscha: Ganz provokant: Sie sind Muttersöhne (lacht). Sie sind über die Mutter identifiziert. Da ist zunächst einmal eine große Dankbarkeit der Mutter gegenüber, die steht über allem. Sie wollen, dass es der Mutter gut geht. Und das geschieht auf allen Ebenen, sei es, dass sie bei der Arbeit mit anpacken, sei es, dass sie sie schützen wollen. Das weibliche Wesen, die Mutter, hat auch in den Ritualen eine große Bedeutung, bei Beerdigungsritualen geht es zum Beispiel zurück in den Mutterschoß. Bei den Khasi, die ihre Toten verbrennen, nimmt die Priesterin die Asche in die Schürze – sie nimmt sie in den Schoß zurück. Das ist für Männer eine tröstende Gewissheit, selbst wenn sie in der Ferne sind, möchten sie zuhause sterben. Das dürfen wir uns als großes Umfangenwerden vorstellen, deswegen kommt auch keine Angst vor dem Tod auf.

Ich habe dort keine Männer erlebt, die sich von Frauen oder Müttern abgrenzen wollten und wenn sie mit Frauen in Kontakt treten, zum Beispiel als Liebhaber, dann sind sie ähnlich respektvoll wie zur Mutter. Sie ergreifen auch nicht unbedingt die Initiative, müssen nicht Eroberer sein, sie erkennen die Zeichen, wenn eine Frau sie wählt.

Andrea: Was haben die Männer für ein Verhältnis zu ihren Vätern?

Uscha: Die eigenen Väter haben keine Bedeutung, es sind die Onkel, die Brüder der Mutter, die die Balance Mann-Frau bilden. Im Deutschen gibt es für sie ein eigenes Wort, Oheim. Der Sohn einer Frau orientiert sich zum Onkel mütterlicherseits hin, zum Oheim, das ist seine Blutsverwandtschaft.

Andrea: Das heißt, im Zweifelsfall treffen sich Sohn und Vater, begrüßen sich mit Handschlag und gehen ihrer Wege.

Uscha: Na ja, selbst wenn die Kinder mit Vätern näher zusammenkommen, das Entscheidende ist, dass der Vater nie irgendeine Macht über seine Kinder hat. Wenn überhaupt, würde das der Onkel machen. Zum Beispiel, wenn ein Kind in die Schule kommt wird es bedacht und geehrt vom Onkel. Der Vater hat im Grunde nichts zu schaffen mit diesen Kindern. Er hat seiner Liebsten in der Nacht das Sperma geschenkt und wenn er stolz ist, dann höchstens, weil er einem anderen Clan geholfen hat, dass ein Kind zur Welt kommt.

Andrea: Ist es in den Matriarchaten üblich, dass die Paare, wie wir sie hier kennen – Vater, Mutter, Kind – nicht zusammenleben? Ich kenne den Begriff der „Besuchsehe“?

Uscha: Ja, wobei der Begriff „Ehe“ schon falsch ist, es ist ja keine Ehe. So war das einst überall in den Matriarchaten, der Mann kam zu Besuch, über Nacht. Sie dürfen sich beide vergnügen und müssen keine Kleinfamilie neu aufbauen, was ja auch oft schief geht, und dann gäbe es wieder wirtschaftliche Probleme. Diese Probleme hat der Mann nicht, er wirtschaftet zusammen mit seiner Ursprungsfamilie. Inzwischen hat die sogenannte Moderne Einzug gehalten. Bei den Minangkabau zum Beispiel, die mit mehreren Millionen Menschen die größte matriarchale Gesellschaft der Welt bilden, zieht der Mann inzwischen zur Frau, aber innerhalb eines großen Gefüges. Und dann ist er natürlich auch für die Kinder da, die er gezeugt hat. Mit denen muss er spielen, sag ich jetzt mal. Aber wenn ein Kind gelenkt werden soll, wird es von den Männern der Frauenseite gelenkt. So kriegen die Kinder mit, wie man sich durch die Welt bewegt.

Andrea: Ich finde es spannend, dass du von „gelenkt“ und nicht von „erzogen“ sprichst. Ich könnte mir vorstellen, dass es für „Erziehung“ in den Matriarchaten noch nicht mal ein Wort gibt?

Uscha: Richtig, das ist nicht nötig.

Andrea: Wenn ich von Matriarchaten spreche, bekomme ich öfter die Reaktion – ähnlich wie bei indigenen Völkern – „Ach, ja, das sind primitive Völker. Man sieht ja, dass diese Gesellschaftsform nicht erfolgreich ist, weil, die leben immer noch in Hütten und vom Ackerbau und das lässt sich ja mit den Errungenschaften unserer westlichen Technologiegesellschaft nicht vergleichen.“ Wie würdest du so eine Aussage beantworten?

Uscha: Wir kennen Matriarchate, die in einer sogenannten Zivilisation weiterleben, also auch industriell wirtschaften, aber ihre gesamte Art und Weise ist und bleibt die matriarchale. Wenn es zum Beispiel um offizielle Rollen gegenüber dem Staat geht, wenn also Grundbucheinträge erfolgen müssen oder ähnliches, dann ist es in der Tat die Frau, die eingetragen wird. Aber die Familie versteht die Frau dann nur als Vertreterin der ganzen Familie, es gibt nie Privateigentum.

Andrea: Ich habe mir Matriarchate immer als eher dörfliche Gemeinschaften vorgestellt, aber es gibt auch matriarchale Gemeinschaften in großen Städten? Sie leben in Wohnungen und halten die Verbindung durch Treffen?

Uscha: Nehmen wir nochmal die Minangkabau. Es mögen 11 Millionen Menschen sein, niemand kann das so genau sagen, trotzdem sind sie ein Stamm mit einem ganz starken Zugehörigkeitsgefühl. Man könnte sagen, dass die Gemeinschaft die Basis der matriarchalen Kraft, der Stärke ist. Die ganze Gesellschaft ist von einer großen Anpassungsfähigkeit geprägt, man schwingt sich aufeinander ein. Bei uns würde das nicht funktionieren, hier in dieser Gesellschaft benötigen wir unsere Art, uns abzugrenzen, zu wehren. Da wären wir wieder bei den starken Frauen, über die wir hierzulande reden.

Andrea: Das finde ich eine ganz interessante Sichtweise. Ich selbst bezeichne mich mal – verallgemeinernd – als hochsensibel, kenne also dieses Mitschwingende, Mitfühlende sehr gut. Es ist in dem Kontext, in dem wir leben, tatsächlich sehr schnell eine Last …

Uscha: … du bist schnell erschöpft und es kann schlimm sein, wenn du nicht auf der Hut bist.

Andrea: Ja, wobei dieses tiefe Fühlen ja auch ein Teil meiner Stärke ist, eine meiner Säulen, und es ist mir ein großes Anliegen herauszufinden, wie ich mir dieses fühlende Mitschwingen als Stärke erhalte.

Uscha: Du musst Grenzen setzen und du benötigst gleichgesinnte Personen, die dieses Verständnis auch haben. Eine Gemeinschaft. Alleine kann das niemand.

Andrea: Gemeinschaft, meine zweite Säule für Stärke, brauche ich, um zu fühlen. Das ist auch interessant, „meine“ Säulen bedingen sich gegenseitig, wachsen miteinander. Apropos Gemeinschaft, du hattest mir in unserem Telefonat erzählt, dass deine Idee für unsere Gesellschaft viel damit zu tun hat, unsere weiblichen und männlichen Kräfte wieder in Balance zu bringen, um vielleicht in ein partnerschaftliches Zeitalter zu kommen. Wie dürfen wir diesen Weg gehen? Als Frauen, als Menschen?

Uscha: Wir sollten Orte der Heilung finden, Schwesternschaften hochhalten. Brüderschaften gibt es seit Jahrtausenden und wir benötigen all diese Gemeinschaften, um in Balance zu kommen. Und wenn wir jetzt von der Partnerschaft Frau-Mann sprechen, da sollten wir vielleicht langsamer werden, viel langsamer. Nicht zu früh glauben, den Seelenpartner erkannt zu haben, da sind Enttäuschung und Dramen vorprogrammiert. Ich rate zu Zurückhaltung, so kommen wir Stück für Stück zu Respekt, zu Achtung und zum Verstehen. So könnten wir in Partnerschaften von Männern und Frauen allen ihre Bereiche lassen. Und dann sollte die männliche Welt uns Frauen auch einfach mehr anhören. Es ist höchste Zeit, denn in unserem Bereich – bei den Töchtern, den Müttern, den Großmüttern – geht es um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.

Andrea: Wir heilen als Gesellschaft, sagst du, indem wir dem Weiblichen mehr Raum bieten, in dem es angehört werden kann. Dazu dürfen wir Frauen uns erst einmal Heilung verschaffen, indem wir uns in heilende Gemeinschaften begeben und indem wir unser Fühlen und unser Frausein wieder zulassen. Und nicht versuchen es abzutrennen.

Uscha: Genau, das Weibliche muss nicht nur angehört werden von der anderen Hälfte der Gesellschaft, sondern es darf auch erspürt werden. An unseren Jahreskreisritualen nehmen auch Männer teil. Das haben wir uns anfangs nicht getraut, wir hatten vielleicht Angst vor Störung oder Spott. Weil wir immer selbstbewusster werden, geht das jetzt und die Männer, die dabei sind, sind sehr berührt. Es ist wichtig, dass Männer unsere Rituale erleben dürfen: Die Frauen schaffen die Räume für die Männer eigentlich mit.

Andrea: Wenn wir davon sprechen, eine Balance der weiblichen und männlichen Kräfte wiederherzustellen, dann geht es ja nicht nur um eine Balance zwischen Frauen und Männern, sondern auch darum, dass ich als Frau mir der als männlich verstandenen Anteile in mir bewusst werden darf und umgekehrt die Männer auch wieder die Erlaubnis bekommen, ihre als weiblich interpretierten Anteile selbstverständlich zu leben. Was wahrscheinlich in den Matriarchaten viel normaler ist?

Uscha: Ja, dort sind die Frauen das, was wir „männlich“ nennen, zupackend, aktiv und können auch diese positive Aggression ausdrücken.

Andrea: Und die Männer können die weiblichen Anteile leben …

Uscha: … und dann müssen wir noch überlegen, ob wir das wirklich so trennen wollen. Da männlich, da weiblich? Über allem steht ja das mütterliche Prinzip, das allumfassende. Insofern könnten wir endlich aufhören, den Gegensatz männlich/weiblich zu betonen, er spaltet die Ganzheit. Trennung ist etwas Patriarchales. Wir sollten das Patriarchat innerlich verlassen, ihm keinen Raum mehr geben.

Andrea: Eine tolle Einladung, ein perfektes Schlusswort: Lasst uns das Patriarchat innerlich verlassen. Uscha, ich danke dir für deine Arbeit und für dieses Gespräch.

Kontakt:

Uschi Madeisky

tomult & töchter – Film und Medienkommunikation (www.tomult.de)

madeisky@tomult.de